Erinnerung an die 1980er Jahre

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Selbst in den 80ern. Schlimme Haare, schlimme Brille

Neulich schrieb ich über meine Erinnerungen an die 1970er Jahre. Ich fühlte mich sogleich ermuntert, auch das folgende Jahrzehnt, die 1980er Jahre, nachzuvollziehen. Dabei kam mir der Eindruck, als hätten seine äußeren Ereignisse, wie sie mir im Gedächtnis geblieben sind, nicht die gleiche Eindrücklichkeit erlangt, wie in den 10 Jahren zuvor.

Woran kann das gelegen haben?

Zwei mögliche Gründe: zum einem hatte ich seit meinem Auszug bei den Eltern kein Fernsehen und keine Bild-Magazine (vornehmlich STERN) mehr konsumiert. Mithin fiel diese Form der Beeinflussung weg. Zum anderen war ich zum ersten Mal mit der Gestaltung und Bewältigung meines eigenen Lebens beschäftigt, erst als Schüler und Teenager, dann als Student. Kindheit, in den 1970ern, bedeutete dagegen, viel stärker dem Einfluß der Außenwelt ohne eigene Gestaltungsmöglichkeit ausgeliefert gewesen zu sein. Vielleicht wurde daher diese Außenwelt, vermittelt eben auch durch Medien, einprägsamer wahrgenommen.

Wiederum habe ich hier Ereignisse, die ich nicht mehr deutlich erinnere, grau markiert oder mit [?] versehen.

1980

— erste Bio-Produkte

— Björn Borg auf dem Höhepunkt des Erfolgs

— der Schah stirbt [wir im Urlaub in England]

— Sartre stirbt

— Iran-Irak Krieg beginnt [?]

— amerikanische Botschaft in Teheran besetzt [?]

— Solidarność Bewegung in Polen. Lech Walesa.

— Ronald Reagan gewinnt haushoch gegen Jimmy Carter

— Kubrick, The Shining

— John Lennon wird erschossen

1981

— Neue Deutsche Welle NDW [?], DAF Die Kleinen und die Bösen. Der Plan. Fehlfarben. Die Ärzte. Andreas Dorau. Einstürzende Neubauten. (Ein Schulfreund war auf Interrail-Tour und brachte die ersten Platten aus Düsseldorf, Hamburg und Berlin mit zurück in die Provinz.

— Attentat auf Ronald Reagan

— Space Shuttle

— Attentat auf den Pabst

— Mitterand gewinnt in Frankreich

Interrail durch England

— Hochzeit Lady Di und Prince Charles (29.7. 1981)

Tod der Großmutter

— Groß-Demos in Deutschland. Anti-AKW. Anti-Gorleben. Anti-NATO-Doppelbeschluß. Anti-Startbahn-West.

— 1. PC (IBM)

— Westkunst in Köln

— 1. Mal Rap gehört [?]. Grandmaster Flash.

— Talking Heads, Remain in light

— Michael Jackson [?]

— das Merkheft von zweitausendeins erreicht uns Schüler und stellt den Anschluß an die große weite Welt her.

1982

— Argentinien besetzt die Falkland-Inseln. Falklandkrieg.

— Libanonkrieg [?]

— Fassbinder stirbt

— documenta VII, Beuys 7000 Eichen

— Ende der sozial-liberalen Koalition. Kohl kommt an die Macht. Politischer Ausklang der 1970er Jahre.

— in leerstehende Ladenlokale der zunehmend verödenden Innenstädte ziehen die ersten Videotheken ein. Freunde veranstalten Videonachmittage. (Erste Anzeichen eines fundamentalen Wandels)

— Blade Runner [?]

1983

— Neuwahlen. SPD-Kandidat Vogel [?] mit Punks auf Plakaten. Kohl gewinnt überlegen. Die Grünen ziehen erstmals in den Bundestag ein.

— erste Gerüchte von AIDS. „Schwulenkrankheit“

18. Geburtstag in Paris. Austritt aus der kath. Kirche einige Tage später. Bekam daraufhin Orgelverbot.

Fahrradtour mit einem Freund nach Oberbayern.

1984

das erste und einzige Mal in der DDR. Karl-Marx-Stadt und Dresden.

— Foucault stirbt

Abitur. Gleich darauf zur Bundeswehr.

— Reagan gewinnt erneut. Gegen Mondale [?]

— Prince, Purple Rain [?]

1985

— Gorbatschow, Perestroika

— Boris Becker gewinnt Wimbledon

Fahrradtour mit einem Freund an der Loire

— Böll stirbt

— 1. Mac gesehen. (In Paris)

Ende der Bundeswehrzeit. Zum Studium nach Hamburg. Auszug von zuhause.

— Rock Hudson stirbt. Schock! AIDS wird endgültig manifest. AIDS-Krise!

— Postmoderne wird sichtbar. Zuerst in der Architektur.

— 1. tragbarer CD-Spieler. Von Sony. Erste CDs. Überall steht „digital“ drauf.

— Swatch. [?] Markiert endgültig das Ende der soliden (schweizer) Armbanduhr und bietet zugleich der billig-digitalen Konkurrenz aus Fernost Paroli. Die Swatch ist die Uhr des Videozeitalters.

— Waldsterben, sauerer Regen. Ozonloch [?]

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Bilder der 1980er Jahre. A derivative work by CatJar

Während der 1980er Jahre gewinnt die Globalisierung weiter an Dynamik, was sich besonders an der Unterhaltungselektronik zeigt. Traditionsmarken, wie Grundig, Nordmende, AEG verschwinden oder werden in Nischen abgedrängt (Zeiss, Leica), während japanische Anbieter in rasantem Tempo den Mark erobern. Sony wird als die erste global agierende Marke erlebt. Ähnliches entsteht auch auf dem Automobilmarkt. Einen Nissan oder Toyota zu fahren, wird schließlich akzeptabel. Es waren zuerst die Gewerbetreibenden, die die günstigeren Fahrzeuge kauften.

Mit dieser Entwicklung entstehen Ängste, die Japaner könnten „uns“ aufkaufen. Es herrscht gegenüber Asien eine diffuse „Untergang-des-Abendlands-Stimmung“.

1986

— Beuys stirbt

— USA bombardieren Libyen (1. Mal Precision Bombing)

— Tschernobyl

— Challenger Unglück

— Beuys, Zeige deine Wunde (München)

— Prof. Kurd Alsleben stellt sich mit dem Schild „Ich weiß allein nicht weiter“ vor die Hochschule

— Hamburger Kessel

— Horowitz in Hamburg. Die Karten kosten 400 DM. Menschen stehen tagelang vor der Musikhalle an.

— neue RAF Attentate. Beckurts, von Braunmühl.

— postmoderne Theorie. Die „Franzosen“. Baudrillard, Virilio, Deleuze, Foucault, Flusser. Merve-Verlag.

1. Mal auf Falster

— Wir lernen neue Wörter: Aerobic, Yuppie, Jogging, Breakdance. Endlich auch Design und Designer, sowie die mit ihnen verbundenen Anwendungen, Gegenstände und Personen. Eine Schulfreundin schrieb mir aus Italien, niemand wolle dort Kunst studieren, weil sich mit Design soviel mehr Geld verdienen liesse. Alessi.

Design ist der Ausdruck des post-industriellen Zeitalters, das mit den 1980ern einsetzt. Marken werden verstärkt als eigenständige Werte wahrgenommen und geschätzt. Vielleicht machte Lacoste den Anfang? Alle wollten plötzlich die Shirts mit dem Ripp haben und jeder sollte das kleine Krododil sehen können.

Die Botschaft lautete: Wir verkaufen dir kein Produkt mehr, sondern ein Gefühl.

1987

das 1. Mal (von Hamburg aus) nach Berlin. Graue, schwermütige Wintertage. Besuch der UDK. Alle im Malrausch. "Junge Wilde"

— Warhol stirbt

— Zeitschrift ‚Spuren‘ (an der Hochschule). Entdecke Pynchon.

— Kohl gewinnt erneut

— Volkszählung (umstritten)

— documenta 8

— Hochphase von MTV. Video ist das Medium der 80er. (Sex, Lies & Videotape)

— Computer (Apple Mac II mit 256 Farben!) kommen an die Hochschule. Laserdrucker und Scanner. Desktop Publishing (DTP) wird zum Schlagwort. Es forciert den emanzipativen Mediengebrauch, den schon die Kopiergeräte eingeleitet hatten.

— Hafenstraßen-Demos. Höhepunkt der Auseinandersetzung.

— Palästina: 1. Intifada

1988

— große Beuys-Ausstellung in Berlin

Umzug von Hamburg nach Wien

— erster Umgang mit dem Internet. Email, Chat. Erste Netzarbeiten (‚MAPS‘) an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien.

— Bush senior folgt auf Reagan

— Lockerbie Attentat

1989

— Thomas Bernhard stirbt

Großmutter stirbt

— Aufstand in China. Tian’anmen-Platz.

1. Mal in Kanada und USA. UNESCO Konferenz in Montreal. Besuch in Boston. Am MIT bei Otto Piene.

— in den USA kommt die Brat Pack Literature im Mainstream an. Ich lese im Greyhound Bus ‚The Mysteries of Pittsburgh‘, den Überraschungserfolg des erst 24.jährigen Michael Chabon.

Sommer in Hamburg

— tausende DDR Bürger harren im Sommer in Ungarn aus

— DDR Bürger flüchten in die deutsche Botschaft in Prag

— Ungarn öffnet die Grenze

— Montagsdemos in Leipzig

— 9. November. Mauer in Berlin geöffnet. Honecker wird entmachtet.

— Tschechien öffnet die Grenze. Tschechen überrennen Wien.

Ausstellung in Budapest. Verhaltene, eher skeptische Stimmung angesichts der Grenzöffnung und den kommenden Veränderungen.

— Umsturz in Rumänien. Ceaușescu hingerichtet.

Stimmungsbilder

Wollte ich jemanden vermitteln, wie die 1980er Jahre gewesen waren, der sie selbst nicht miterlebt hatte, würde ich ohne weiteres zu Superlativen greifen und sie als „das schlimmste Jahrzehnt überhaupt“ beschreiben.

Zu meiner Überraschung können die erinnerten Ereignisse in dieser Auflistung den Eindruck des Schrecklichen nicht gänzlich belegen. Was war eigentlich so schlimm an den 1980er Jahren?

Reagan, Kohl, Thatcher, – sie haben zweifellos dem Jahrzehnt den Stempel aufgedrückt. Direkt betroffen von ihren Entscheidungen war ich jedoch nicht. Mit den Bergarbeitern Nordenglands hatte ich wenig gemein. Auch den furiosen Abschluss der 1980er Jahre, der Zusammenbruch des Kommunismus, hatte ich eher distanziert aus dem fernen Wien miterlebt, wo ich das Gefühl hatte, alles dränge wie durch Watte gefiltert zu mir durch.

Und dennoch, die 1980er waren in ihrer Schrecklichkeit weniger von einzelnen Ereignissen (und es gab auch solche von singulärer Gestalt: Tschernobyl), als von Stimmungen geprägt, die sich drückend über die eigene jugendliche Zuversicht legten und sie zu ersticken drohten.

In der Welt um mich herum, der durch die sogenannte Nachrüstung weiter angeheizte Ost-West Konflikt, die Starwars-Fantasien Reagans, die konservative Gegenwelt Helmut Kohls, bei einem gleichzeitig weiter hemmungslosen Konsumrausch und Materialismus, sowie den ersten dunklen Wolken am Himmel der Konjunktur (die Zeiten der Vollbeschäftigung waren vorüber). Der nach der iranischen Revolution entfesselte Iran-Irak Krieg, die sowjetische Besatzung Afghanistans (die wiederum den Taliban der 90er Jahre Vorschub leistete), sowie der weiterhin ungelöste Palästina-Konflikt, der in der 1. Intifada gipfelte. Nebenbei in Nebenschauplätzen auch Nordirland und das Baskenland. Dass schließlich der Fall der Berliner Mauer in einer Hinsicht Entspannung einleitete, war über das ganze Jahrzehnt nicht abzusehen. Endlich bedeutete AIDS, das Mitte der 1980er Jahre endgültig manifest wurde und zu einer Krise mutierte, gerade nach den freizügigen und liberalen 1970er Jahren, eine schwer fassbare Einschränkung des Lebensgefühls, die sich nach wenigstens zwei Seiten richtete, zum einen die Trauer um die Toten (immerhin zwei Freunde meiner Mutter starben), zum anderen die implizite Forderung, sich vorzusehen. ‚Safer Sex‘, zu dem allenthalben aufgefordert wurde, war immer das Gegenteil von Sorglosigkeit, zudem nie wirklich klar wurde, wie ’safe‘ denn der Sex wirklich war, gemessen am Aufklärungstand, den man vom HIV hatte. Die überaus geschmacklose Mode dieses unseligen Jahrzehnts wirkte dazu dann, wie das geringste Übel.

Ich habe die 1980er Jahre überlebt.

  

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