Auf Distanz zur Welt – Welchen Sinn hat Kunst?

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Jenseits des Gewöhnlichen – wie Kunst, so das Bier

Wenn Kunst unerklärlich und geheimnisvoll wirkt, dann ist das kein Mangel, sondern Ausdruck ihrer Grundverfassung, die auf Abstand zur Welt geht und daraus Sonderrechte für sich fordert.

Auf meine Untersuchungen zur Kunst als eine der Religion nahestehende Praxis ergibt sich ganz zwangsläufig und aufdringlich die Frage, warum sich die Kunst durch eine solche Kritik unberührt zeigt.

Wie ist es erklärbar, dass Kunst trotz fehlender rationaler Begründung weiterhin existiert und durch den Mangel an Begründung nicht in Frage gestellt wird?

Welche Mechanismen und Grundvoraussetzungen sind dem Kunstbetrieb zu eigen, so dass er eine Infragestellung, wie sie durch Claus Borgeest formuliert wurde, ignorieren kann? Warum glauben Menschen weiterhin an die Kunst, in einer Form, die ihnen verschleiert, dass sie einem Glauben anhängen?

Währenddessen findet allenthalben Selektion statt. Über Künstler, Ausstellungen, Preise werden Entscheidungen gefällt. Da diese niemals nur positiv ausfallen, muss den Verlierern der Selektion eine wenigstens ansatzweise Begründung für die Entscheidungskriterien, oder, gerade in der Kunst wichtig, das Ausbleiben von Kriterien, geliefert werden, damit nicht der Eindruck größerer Ungerechtigkeit und Willkür entsteht, die auf Dauer das System gefährden könnten.

Bevor ich zur eigentlichen Untersuchung komme, möchte ich einige naheliegende Erklärungsmuster ausschließen.

Es geht um viel Geld

Mit Sicherheit verlören einige Menschen, die in Kunst investiert haben, viel Geld, wenn der allgemeine Glaube an die Kunst und infolgedessen ihre Wertschätzung zurückginge. Deshalb ist es naheliegend, dass diese Menschen und natürlich mit ihnen verbundene Institutionen, aus Angst vor drohendem Wertverlust einigen Aufwand betreiben, den Glauben an die Kunst aufrecht zu erhalten.

Wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, ist der Glaube an die Kunst erst aufgrund einer besonderen Struktur der Kunst wirkkräftig. Erst durch sie wird es möglich, Werte zu produzieren, die sich für einige in Geld auszahlen.

Wäre der Glaube an die Kunst allein eine Frage des Geldes, dann müsste er unter denjenigen geringer verbreitet sein, die wenig Geld besitzen. Allen voran die Künstler. Und das ist bekanntlich nicht der Fall.

Kunst ist doch harmlos

Diese Behauptung wird gerne von Vertretern aus der Mitte des Kunstbetriebs (Galeristen und andere Aussteller, mit wenig Neigung zur Theorie) aufgestellt und meint in etwa: Warum soviel Aufwand in die Ergründung von etwas stecken, das niemandem weh tut?

Nun mögen an die Wirkung eines Antibiotikums, dessen Einsatz über Leben und Tod entscheiden kann, sicherlich andere Ansprüche gestellt werden als an die eines Kunstwerks. Damit ist Kunst aber keinesfalls harmlos.

Ich denke, es ließe sich ohne größere Schwierigkeit eine Entwicklungslinie nachzeichnen, die von der Abstraktion über die russischen Formalisten, über das Bauhaus zum architektonischen Funktionalismus, Brutalismus und schließlich zur Rasterarchitektur der Großsiedlungen, Trabantenstädte und Banlieus verliefe.

Genauso, das haben Boltanski/Chiapello gezeigt, entspringt der Künstlerkritk, ursprünglich als Plädoyer für ein authentisches, selbstbestimmtes Leben aus dem Geist der Kunst gemeint, inzwischen eine Gegenbewegung, die unter dem Dogma der Kreativität allen Menschen eine entsprechende unternehmerische Lebenseinstellung ungeachtet der Folgen (Armut, Prekariat) abverlangt.

In beiden Fällen hat Kunst den ensprechenden Nährboden geliefert.

Die subtilere Form des obigen Arguments lautet: Wer wollte denn Joyce den Ulysses nachrechnen? Was soviel bedeutet, wie: wer wollte denn noch angesichts großer Kunst sich mit Kleinkram wie unbezahlten Rechnungen, den Niederungen des Künstleralltags und haarspalterischen Untersuchungen zum vermeintlichen Kunststatus abgeben? Es kommt aufs Resultat an.

Zurück zur ursprünglichen Frage:

Worin verharrt die Kunst?

Ich möchte mit der Vermutung beginnen, dass ein Zustand, ein System, eine Einstellung, die entgegen offensichtlicher Widersrpüche persistiert, ohne dass es einer expliziten Rechnung bedarf, mehr Vorteile als Nachteile verspricht.

Ohne Übertreibung ließe sich die ganze Kunst als eine einzige Märchenstunde bezeichnen. Damit beginnt aber erst die eigentliche Problematik, denn auch Märchen können ihren Vorteil haben, wenn man ihren Nutzen einsieht.

Um den derzeitigen Zustand der Kunst besser zu verstehen, will ich einen kurzen, sehr stichpunkthaften historischen Abriss versuchen.

Nach Stefan Heidenreich bemühte sich die Bildende Kunst, die am Ausgang des Mittelalters noch der Sektion der Artes Mechanicae, also der mechanischen Künste, zugeordnet war, mit der Renaissance um einen Aufstieg in die prestigeträchtigeren Artes Liberales. Dazu musste sie zu einer Wissenschaft werden, was ihr über die Anwendung der Perspektive, der realistischen Abbildhaftigkeit und überhaupt berechnenden Methoden nach und nach gelang.

Gut 150 Jahre später vollzog die Kunst erneut einen Schwenk, als sie sich den Begriff der Schönheit anzueignen versuchte.

Das Schöne mit der Kunst zu verbinden, ist alles andere als selbstverständlich. In den italienischen Kunsttheorien der frühen Renaissance spielte Schönheit eine nur sehr untergeordnete Rolle. Dass Fragen der Schönheit plötzlich für die Kunst wichtig wurden, verdankt sich nicht einer wie auch immer gearteten Fähigkeit, schönere Bilder zu malen. Der Begriff der Schönheit ändert nicht etwas in den Bildern, sondern etwas an der Weise, über sie zu sprechen. Die Rede von der Schönheit entzieht das Urteil über die Bilder den klassischen Regeln und Begründungen, um stattdessen begrenzte Aussagen zuzulassen, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gelten und anderswo oder in einem anderen Moment nicht mehr. Unter der Maßgabe von Schönheit paßt sich die Rede über die Bilder somit dem nachklassischen Spiel der reinen Abweichung an, das sich im Manierismus seinen Weg bahnte. Nicht mehr an den Begriffen einer komplizierten Fachterminologie werden die Leistungen der Maler beurteilt, sondern an einer Schönheit, die vorgibt, keiner Regel zu gehorchen: sie soll vielmehr einer persönlichen Empfindung des besonderen Unterschieds entsprechen. (Heidenreich, Was verspricht die Kunst?, S. 50)

Der Vorteil für die Kunst, von nun an mit dem Schönen zu operieren, bestand nach Heidenreich darin, auf unsicherem Grunde stehend, einen nicht mehr abschliessbaren Diskurs über ihre Mittel und Maßstäbe in Gang zu halten.

[So] verdankte es die Theorie der Schönheit, zum Testfeld der Philosophen ausersehen zu werden. Unter dem Namen Ästhetik lief eine Diskusssion an, die nie mehr enden mußte, weil sie stets einen Widerspruch zur Wirklichkeit der Werke erzeugt. Wann immer eine Theorie des Schönen mächtig genug ist, um in die künstlerische Produktion einzugreifen, wird sie kurz oder lang zum Modell des Unschönen und macht damit für neue, bessere Theorie Platz. (Heidenreich, S. 52)

Auch wenn Heidenreich die Dominanz der Schönheit durch die Entdeckung der Fotografie gebrochen sieht, lebt sie auch in heutigen Kunstauffassungen weiter, die auf Kant zurückgehend („Das Schöne gefällt allgemein ohne Begriff.“), von Geschmacksurteilen oder subjektiven Urteilen sprechen.

Claus Borgeest kritisiert diese Annahmen in seinem Buch Das Kunsturteil an mehreren Stellen.

Dazu wäre auch anzumerken, daß ein ästhetisches Urteil wohl subjektiv, aber nicht auch im wortwörtlichen Sinne individuell, beliebig und sozial unabhängig ist. Keine Urteilskraft entscheidet völlig vorraussetzungslos, sondern sie geht von Erfahrungen, Gewohnheiten, Meinungen und Prizipien aus, die jeweils als Zeitgeist oder Meinungsklima im Kollektivbesitz einer Kulturgemeinschaft oder ihrer Subsysteme stehen. (Borgeest, S.92)

Für diese Untersuchung bleibt die Bemerkung wichtig, dass erst mit dem Geschmacksurteil, das von rationaler Infragestellung entkoppelt ist, die Behauptung der Kunstautonomie an Fahrt gewinnt.

Dass die Kunst seit dem ausgehenden 18. Jhdt. zunehmend auf ihrer Autonomie beharrt, also außerkünstlerische Zumutungen zurückweist, sichert ihr nach innen hin den Status der begrifflichen Unzugänglichkeit. Keinesfalls gibt sie sich selbst Gesetze (mit Ausnahme des einen, dass es keine Gesetze zu geben habe), sondern vergattert mit der Drohung einer Einmischung von Außen die an ihr Beteiligten auf fortwährende Selbstbezüglichkeit im Urteil (Tautologie, nach Boris Groys). Diese Disziplinargewalt der Autopoiese findet dann in den Theorien von Luhmann ihren Abschluss, und Michael Lingner erklärt folgerichtig, dass die Kunst als letzte autonome Handlung nur noch ihre eigene Autonomie abschaffen könne.

Mir dieser Entwicklung ist ein Feld geschaffen worden, dessen Eigenschaft ich die Struktur des Außer-Gewöhnlichen nennen möchte.

Die Struktur des Außer-Gewöhnlichen

Die Kunst kann alles, nur nicht normal sein. Sie agiert beständig in allen ihren Aspekten außerhalb des gewöhnlichen und außerhalb der Norm. Sinnfällig wird das in der jederzeit bestehenden Möglichkeit, dass ein Künstler mit ein paar lose auf ein Blatt Papier geworfenen Strichen einen Millionenwert generiert, – eine Leistung, die selbst von Hedge-Fonds oder ähnlich gelagerten spekulativen Finanzinstrumenten, die gerne als das schlechthin Böse verflucht werden, kaum erreicht wird.

Kunst ist niemals nur Arbeit im bürgerlichen Sinne. Mühe, Einsatz, Fleiß, Verdienst und ähnliche Tugenden zählen wenig, bis gar nicht. Abschlüsse, Examina oder andere Formen der Zugangsbeschränkung ebenso wenig. Jeder kann sich Künstler nennen.

Eine solche Freistellung von allen praktischen Zwecken, Pflichten und Aufgaben, wie sie der Kunst wenigstens nach der Vorstellung der Kunstkundigen zugestanden, ist etwas sehr Ungewöhnliches. Es gibt in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft kaum einen zweiten Berufsstand, dessen Dienstleistung oder Güterproduktion nicht der Befriedigung fremder Bedürfnisse dient, sondern nur dem reinen Sichselbstbegnügen des Produzenten und nach Maßgabe des eigenen Gutdünkens. (Borgeest, Kunsturteil S. 157)

Allein, die Selbstgenügsamkeit kann sich auszahlen. Der Ökonom Hans Abbing glaubt, dass kein Berufszweig bei entsprechender Ausbildung ein Einkommen ähnlich dem der Künstler erzielt.

Using the term ‘artist’ in a broad sense and, at the same time, disregarding the difference between high and low art, it turns out that an extremely small group of artists earns astronomical amounts of money. Movie actors and pop musicians belong to the group of professionals who annually top the lists of the highest professional incomes. Actor Leonardo DiCaprio earned $37 million in 1998, film director Steven Spielberg $175 million and the singer Robbie Williams $56 million. (Abbing, Why are artists poor, S. 106)

Dabei sind die Einkommensunterschiede extrem hoch. Wenige verdienen Millionen, die breite Masse der Künstler bleibt arm. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern und sie im „Spiel“ zu halten, fliesst viel Geld aus externen Quellen ins System. Freunde, Eltern, Partner, staatliche Institutionen und Stiftungen, sowie Nebenjobs finanzieren Künstler, die sich aus eigener Kraft nicht halten könnten. Oft ein Leben lang. In der sonstigen Wirtschaft ist es dagegen unüblich, dass etwa Taxifahrer einer Nebenbeschäftigung nachgehen, um sich ungehindert das Taxifahren „leisten“ zu können.

Die einleitende Fragestellung vorausgesetzt, bleiben derartige Zustände von kritischen Fragen nach ihrem Sinn und Zweck verschont. Überprüfbarkeit, Vergleichbarkeit, Wiederholbarkeit, – Grundvorausstzungen einer rationalen Methodologie scheinen in der Kunst keinen Platz zu haben. Wäre sie ein Arzneimittel, müsste bei ihrer Anwendung mit Todesfällen gerechnet werden.

Ebenso klingen Demokratie, Mitbestimmung, Schutz vor Willkür staatlicher Stellen, – Konzepte, um die Europa jahrhundertelang gekämpft hat und von denen noch Millionen Menschen auf dieser Erde ausgeschlossen sind, im Kunstbetrieb wie Fremdwörter. Wer sie unbedarft ausspricht, muss mit Verstimmung und Unmut rechnen.

Um ein Bild zu wählen, – wäre der Kunstbetrieb ein Staat, dann ähnelte er von seiner politisch-ökonomischen Verfasstheit dem heutigen Russland, das seinen Bürgern die verbürgten Rechte nur pro forma gewährt, während hinter den Kulissen einflussreiche Minderheiten das Sagen haben.

All diese Umstände zeugen von der besonderen Struktur der Außer-Gewöhnlichkeit der Kunst, der sich noch weiteres hinzufügen ließe, aber endlich zur Frage überleitet, wer überhaupt davon profitiert.

Was macht die Anziehungskraft der Kunst aus?

Die vorläufige Antwort soll lauten, Kunst ist eine bestimmende Gegenkraft in dieser Welt.

Esoterik und Sozialismus sind die anderen beiden. Doch nur der Kunst werden Tempel inmitten unserer Städte, finanziert aus Geldern der Allgemeinheit, gebaut. Somit ein Grund die besondere Stellung der Kunst zu untersuchen.

Die Gegenkraft

Mit der Außer-Gewöhnlichkeit der Kunst ist schon eine vorraussetzende Markierung gegeben, die der Kunst ermöglicht als Heilsbringerin zu wirken und anzuziehen. Kunst ist eben nicht nur anders, ihr Anderssein ist auch positiv besetzt, begehrenswert, attraktiv.

Warum?

Durch die die moderne Kunst begleitende neuzeitliche Industrialisierung kam gleichzeitig eine ungeahnte Veränderung in das Leben der meisten Menschen, die, an beschauliche Verhältnisse gewöhnt, mit fortschreitender Rationalisierung, Bürokratisierung, Individualisierung und Anonymisierung konfrontiert wurden.

In der Zeit zwischen 1830 und 1914 entstand die industrielle Massengesellschaft, deren Auswirkungen extrem verstörend wirkten. Die Befreiung des Menschen von der Obrigkeit, wie sie noch die Französische Revolution versprach, mündete in ‚Ströme und Strahlungen‘ der Fabrikarbeit, des Großstadtlebens, des Individualverkehrs, der Telekommunikation und schliesslich in die Materialschlachten des Weltkriegs.

Die Beschleunigung der Produktion, auf die die Beschleunigung der Konsumption folgte, erzeugte tiefgreifende Orientierungslosigkeit, schließlich Kränkung und psychische Schockzustände in Form von Nervositäten, Neurasthenien, Hysterien und weiteren Verwirrungen.

Als Antwort und Ausweg auf die Zumutungen der Zeit formierte sich, zuerst in bürgerlichen Kreisen, eine breit angelegte Gegenbewegung, die sich nur stichpunktartig an folgenden Erscheinungen festmachen lässt: Arts and Crafts, Jugendstil, Reformbewegung, Wandervogel, Theosophie, Anthroposophie, Symbolismus, Vegetarismus, Nietzsche-Kult, George-Kreis. Letzterer fasste seine Abneigung gegen die Moderne in die kurzen knappen Worte: „Keine Zinsen, keine Maschinen, keine Menschenmassen.“

Nicht alle davon waren genuin künstlerisch. Ihnen allen gemein jedoch war die Auffassung von einem Defizit, das der moderne Mensch durch eine Hinwendung zu einer ganzheitlichen Lebenshaltung auszugleichen habe.

Die Kunst konnte dafür als Klammer dienen, alle Ausprägungen des persönlichen Dissenzes mit den Verhältnissen zu umfassen und in ihrer Manigfaltigkeit zu artikulieren. (Bewegungen wie der Futurismus sind nur ein scheinbares Gegenbeispiel, da sie gerade in der proklamierten Überbietung des Bestehenden ihre Differenz belegen.)

100 Jahre später hat sich daran nichts grundlegend geändert. Die Diagnose der Zeit und ihrer Krankheit aus dem Geist der Kunst gesprochen lautet immer noch Entfremdung (Marx), Entzauberung (Weber) oder Versachlichung (Simmel). Mit dieser Einstellung sind keineswegs besonders gesellschaftskritische Künstler und Positionen gemeint, die in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erzielen, sondern die Kunst in ihrer Alltäglichkeit, die auch dort, wo sie sich nicht ausdrücklich kritisch äußert, einen Habitus des Unangepassten und Nonkonformen pflegt.

Auch wenn Boltanski/Chiapello die Entwicklung der Künstlerkritik skeptisch bis pessimistisch sehen, in dem sie in ihr wenigstens den Ausgangspunkt für einen ’neuen Geist des Kapitalismus‘ sehen, der in einer Projektökonmie das autonom vorgestellte Subjekt in ein zur Selbstausbeutung angehaltenes unternehmerisches Selbst transformierte, sind die Grundannahmen der Künstlerkritik in der Kunst weiterhin wirksam und virulent. Besonders, wenn gegen den ‚bösen Kunstmarkt‚ oder Marktgeschehen überhaupt (s. TTIP) und den Einfluss des Geldes auf eine hehre Kunst gewettert werden muss.

Mithin ist die Haltung der Kunst in und zur Gegenwart eine Anti-Pathie zu nennen. Sie steht mit ihrer Betonung von Freiheit, Regellosigkeit und Ablehnung aller Nützlichkeit und Zwecke für eine Form des Dagegen-Seins, das sich vor allem antikapitalistisch und antirationalistisch äußert. (Mit Max Weber müsste auch noch ein Antibürokratisch folgen, um die volle Bandbreite der Kritik abzubilden. Aber mit der Bürokratiekritik hält sich die Kunst in Deutschland vornehm zurück, ist sie doch vollkommen abhängig von der staatlichen Kulturverwaltung.)

Kunst formuliert in Zeiten der Arbeitsteilung und Spezialisierung das Versprechen auf den ganzen Menschen. Und der Künstler ist der Mensch an sich.

Es gibt gewisse Geistesströmungen in der Philosophie, der Psychologie und der Pädagogik, die im Künstlertum den exemplarischen Menschen in seiner reinen Wesensform schlechthin sehen und alle Menschen danach aburteilen, wieweit ihnen etwas Künstlerisches anhaftet. Alle Übel dieser Welt scheinen von dieser Warte aus keinen anderen Grund zu haben, als daß es zu viele nicht-künstlerische Menschen gibt, die nun schon das Böse selbst sind. (Borgeest, Kunsturteil S. 142)

Konsequent werden daher zur Verkörperung dieses Ideals Figuren bemüht, die in der säkularen Gesellschaft keinen Platz mehr haben, die des Führers, Heilers, Sehers, Schamanen, Magiers, – und auch des Opfers (denn Avantgarde ist Verzicht). Eine entsprechende Redeweise, die sich betont dunkel, zweideutig und unverständlich artikuliert, – als Artspeak kritisiert -, ist ihnen zu eigen.

Die Nähe zur Religion, wie sie von Claus Borgest kritisiert wurde, ist daher Programm. Denn auch die Religion geht zur modernen Welt auf Distanz.

Arbeit, Lohn, Bezahlung haben – wie schon weiter oben zur Struktur des Außer-Gewöhnlichen angedeutet – unter solchen ‚Heiligen‘ keinen Sinn. Weswegen Max Weber sich wohl, mit einer Prise Ironie, zum Begriff der ‚charismatischen Bedarfsdeckung‘ genötigt sah.

Stattdessen besteht die Möglichkeit, sich in Ausübung oder Beschäftigung mit Kunst wunderbar einzigartig, ja elitär zu fühlen, wofür das folgende Nietzsche Zitat die passende Ausprägung liefert:

Damit es einen breiten, tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muss die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderheit, über das Maß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnot sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt sein … Das Elend der mühsam lebenden Menschen muss noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen. (Nietzsche 1872, 764)

(Wer in der heutigen Zeit den Begriff der Elite nicht mehr angemessen empfindet, der sei daran erinnert, dass die Kunstausbildung zu den teuersten Studiengängen zählt. Kunsthochschulen mögen in absoluten Zahlen weniger kosten als Universitäten, gemessen an Lehrkräften und sonstigen Aufwendungen pro Studenten verbrauchen sie weitaus mehr Mittel. Wo Studiengebühren anfallen, wie in den USA, wird dies besonders deutlich.)

Dementsprechend herrscht unter denen, die sich mit Kunst beschäftigen, eine diffuse Stimmung des Gekränktseins, die der Annahme entstammt, die Gesellschaft würdige ihr Wirken nicht entsprechend ihrer Möglichkeiten. Was immer Kunst und Kultur zukommt, es ist immer zu wenig. Dazu schreibt Claus Borgeest:

Niemand findet es anstößig, wenn er [der Künstler] die Erhaltung seines eigenen Lebens anderer Leute Sorge sein läßt […]; eher wird allgemein Klage darüber geführt, daß die Gesellschaft die Freihaltung des Künstlers von der eigenen Daseinsfürsorge nicht ernst genung nimmt, denn das sei das mindeste, was sie ihm schuldig ist. (Kunsturteil, S.141)

Für eine bessere Welt

Die moderne Kunst, die so die Moderne denunziert, die sie selbst mitbegründet hat, verbleibt einer Vor-Moderne verpflichtet, die Aberglaube und Magie in Bewegung setzend dann eine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, dem Einzelnen, der Natur und dem einfachen Leben (Thoreau) propagiert.

Das ist allen Widersprüchen zum Trotz möglich, solange nur eines gilt und verbürgt bleibt: Kunst und Künstler stehen für eine bessere Welt. Ihr widmet Proust als Epitaph auf ’seinen‘ Künstler Bergotte, der in der Fabel vor einem Bild Vermeers verstarb, diese Worte:

All diese Verpflichtungen, die im gegenwärtigen Leben nicht sanktioniert sind, scheinen einer anderen, auf Güte, Gewissenhaftigkeit und Opferbereitschaft basierenden Welt anzugehören, einer Welt, die völlig anders als unsere hiesige ist, aus der wir aber gekommen sind, um auf dieser Erde geboren zu werden, bevor wir vielleicht in jene zurückkehren, um erneut unter der Herrschaft jener unbekannten Gesetze zu leben, denen wir gehorchten, weil wir ihr Gebot in uns trugen, ohne zu wissen, wer es dort eingeschrieben hatte, jener Gesetze, denen alle ernsthafte Geistestätigkeit uns näherbringt und die – doch wer weiß? – einzig den Narren unsichtbar bleiben.

Schluß oder Besser dumm als tot

Die eingangs gestellte Frage, warum die Kunst in einer rationalen Unbegründbarkeit verharrt, lässt sich also so beantworten: weil sie damit einen besonderen Abstand zu ihrer Umgebung einhält, von der sie sich durch Eigenschaften unterscheidet, die dem Rest der Welt abgehen. Ist die Gesellschaft zweckorientiert, rational, kapitalistisch usf, ist es die Kunst gerade nicht. (Glaubt sie wenigstens)

Der Religion ähnelnd nährt Kunst säkulare Jenseitsvorstellungen, in denen besonders moralische und ökonomische Gesetze als außer Kraft genommen gedacht werden.

Diese Haltung, die Sonderstatus und Sonderbehandlung einfordert, ist um so wichtiger, je weiter sich die Kunst in den letzten 100 Jahren von jeglichem positiv gesetzten Gegenstand entfernt hat, den sie allein noch für sich beanspruchen könnte und damit eine Existenzberechting nachwiese, die ihr aufgrund seiner unbezweifelbaren Eigenschaft und Eigenheit zukäme.

Wenn alles, was Kunst sein könnte, auch genauso etwas anderes sein könnte, zählt nur noch die Differenz an sich, deren Einhaltung am Besten durch die Postulierung einer bösen Außenwelt garantiert werden kann. Polemisch gesprochen muß es in der gegenwärtigen Kunst gemütlich zugehen, wenn sonst keine Gemütlichkeit mehr existiert.

Die paradoxe Folge, dass die Kunst damit den reinen Signifikanten, also den Tauschwert in einer Weise maximiert, der anderen Wirtschschaftszweigen Schwindel verursacht, und allein schon aus diesem Grunde die außerordentliche Attraktivität moderner Kunst als Geldanlage und Spekulationsobjekt garantiert, lässt sich nur dadurch übergehen, in dem man der Kunst insgesamt zugesteht, sie meine es ‚gut‘. Künstler wie Christoph Schlingensief oder Philipp Ruch, denen eine besonders politische Einstellung zugeschrieben wird, dienen daher als probates Alibi, nicht näher nach der problematischen Grundverfassung moderner Kunst zu fragen. Man könnte das einen Ablasshandel nennen.

Wie verzerrt die Selbstwahrnehmung der Kunst als Gegenkraft ausfallen kann, verdeutlicht sich schlaglichtartig am Beispiel der Hamburger Kunstbuchhandlung „Welt“ (1976-1983), die deren Betreiberin Hilka Nordhausen als „ihren Anschlag auf die Wirklichkeit“ verstanden wissen wollte.

Die spezifische Irrationalität, die die Kunst pflegt (verstanden als ein komplexes System programmatisch poetischer Selbst- und zu Teilen Fremdbeschreibungen), erweist sich somit nicht als ein Mangel, dessen Behebung aufgrund komplizierter Umstände bislang ausblieb und für die Zukunft noch reparabel erscheint, sondern als Teil ihres Erbguts, das aufgrund seines Programms entsprechende Fehlbildungen fortlaufend hervorbringt.


Über den Autor

Stefan B. Adorno, Medienkünstler. The Thing Frankfurt 1995 - 2013. Kunstraum multi.trudi 1997 - 2010. Blog ThingLabs seit 2013. Themen: Ende der Ausstellungskunst. Offene Handlungsfelder. Abschied vom Publikum. Konversationskunst. Alle wichtigen Texte finden sich in der Rubrik Essays.

Autor des Beitrags
  

5 Gedanken zu „Auf Distanz zur Welt – Welchen Sinn hat Kunst?

  1. Sabine

    Lieber Stefan, liebe Mitlesenden,

    wieder einmal Hut ab vor der jahrelangen Recherche und dem supergelungenen Abriss dieser. Das einzige, das Deine Herleitungen schwächt, ist die (meine) Ansicht, dass „Kunst“ nicht gleich „Kunstmarkt“ ist, nicht gleich dem Betrieb um sie. Du bleibst in der Diskussion immer im System; Du stellst es zwar irgendwie in Frage, aber da Du Dich nicht vehement und konsequent daneben stellst beim Beleuchten und Hinterfragen, auch wieder nicht!

    „Währenddessen findet allenthalben Selektion statt. Über Künstler, Ausstellungen, Preise werden Entscheidungen gefällt. Da diese niemals nur positiv ausfallen, muss den Verlierern der Selektion eine wenigstens ansatzweise Begründung für die Entscheidungskriterien, oder, gerade in der Kunst wichtig, das Ausbleiben von Kriterien, geliefert werden, damit nicht der Eindruck größerer Ungerechtigkeit und Willkür entsteht, die auf Dauer das System gefährden könnten.“

    Das hätte ich nicht besser sagen können 🙂 . Zu dieser Erklärung wird es niemals kommen; damit gefährdete sich das System ja! Wenn man das Prinzip dahinter erkennt: warum sagst Du es nicht genau so, warum sagst Du immer noch, dass „die Kunst“ sich irgendeine Misere, irgendeine, ihre Krise selbst zuzuschreiben hat? Wie kann man an dieses System denn glauben? Wie kann man da an irgendeine Form von „Gerechtigkeit“ glauben?

    Bei der Kunst geht es nicht um Gerechtigkeit irgendwelcher Beurteiler, sondern um den anarchischsten und freiheitlichsten Ausdruck von Menschen für Menschen, um Dialog! Deswegen stimmt für mich auch nicht die Herleitung zum Ausspruch „Kunst und Künstler stehen für eine bessere Welt“, denn das befeuerte wieder den „Mythos“-Gedanken, den Du zu Recht kritisierst. Brich alles runter! Geh‘ doch einfach weg von den Etiketten und drück‘ Dich einfach frei aus! Verschwende Dich! Und wenn Du das nicht magst: leb‘ mit dem „System Kunst“ mit allen Konsequenzen.

    „Die eingangs gestellte Frage, warum die Kunst in einer rationalen Unbegründbarkeit verharrt, lässt sich also so beantworten: weil sie damit einen besonderen Abstand zu ihrer Umgebung einhält, von der sie sich durch Eigenschaften unterscheidet, die dem Rest der Welt abgehen.“

    Das „Problem“ ist, dass das Anarchische und Freiheitliche in der Kunst, die Tatsache, dass sie über einen direkt greifbaren Nutzwert hinaus geht oder gehen kann, zum einen durch das System missbraucht wird, indem es nicht begründet, nicht begründen muss und nicht begründen kann und daher nicht „gerecht“ wertet, das auf der anderen Seite aber genau das das Kriterium ist, das JENSEITS des Marktes als einzig funktionierendes wahrgenommen wird. Ich weiß einfach ganz sicher, wo ich stehen möchte, deswegen gibt es für mich kein Dilemma. Würde ich von diesem System versorgt, so wüsste ich ganz bestimmt, dass das glückliche Fügungen innerhalb des Systems sind und Menschen etwas davon haben, wenn sie mich unterstützen. Meine Gedanken und die daraus entstandenen und entstehenden Arbeiten sind dieselben, deswegen wären sie nicht der Grund.

    Genauso, wie es vermutlich Dir schwer fällt, sich in meine Sichtweise zu versetzen, fällt es mir schwer, zu verstehen, dass nicht jeder diesem Betrieb den Rücken kehren mag, die Willkür klar als das Problem benennt und auf „offizielle“ Teilnahme am System pfeift – und dass das sogar im Sinne von „Kunst“ geschehen würde.

    Verzeih‘ bitte die etwas leidenschaftlicheren Sätze und die für meine Verhältnisse vielen Ausrufezeichen; vielleicht hätte auch der erste Absatz gereicht… 😉

    Liebe Grüße,

    Sabine

    Antworten
    1. Stefan B. Adorno Beitragsautor

      Liebe Sabine,

      vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar!

      Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich Dein Argument darin verstehe. Ausgangspunkt meines Aufsatzes war die Frage, warum Kunst rational unbegründbar bleibt.

      Nun sagst Du gleich zu Anfang, dass Du zwischen Kunst und Kunstmarkt unterscheidest. Wie kann das meine Frage erklären?

      Etwas weiter unten, in dem Abschnitt, der mit „Das ‚Problem‘ ist…“ beginnt, sagst Du, das „System“ „missbrauche“ die Kunst, in dem es nicht begründen könne. Meinst Du, dass es wohl eine Kunst gebe, die begründbar wäre, als solche auch tatsächlich existiert, aber ein „System“ (der „Betrieb“, der „Kunstmarkt“) diese Begründungen auf irgendeine Art zunichte machte?

      Versteh ich das richtig?

      Liebe Grüße
      Stefan

      Antworten
      1. Sabine

        Lieber Stefan,

        so, die Seite ist auch bei mir wieder da 😉 .

        Nachdem Du jetzt geantwortet hast, weiß ich nicht, ob ich „begründbar“ richtig verstehe.

        Dazu zitiere ich Dich nochmal:

        „Die eingangs gestellte Frage, warum die Kunst in einer rationalen Unbegründbarkeit verharrt, lässt sich also so beantworten: weil sie damit einen besonderen Abstand zu ihrer Umgebung einhält, von der sie sich durch Eigenschaften unterscheidet, die dem Rest der Welt abgehen.“

        Kunst unterscheidet sich ja auch von den anderen Dingen, und vielleicht ist die Unbegründbarkeit einfach eine Charaktereigenschaft! Das sehe ich zumindest so, was die einzelnen Arbeiten betrifft.

        Wenn „Unbegründbarkeit“ von Dir ganz allgemein gemeint ist, im Sinne von „warum sollte es Kunst geben; bitte begründe das einmal“, dann ist sich ausdrücken ein Bestreben des Menschen. Wo Worte nicht mehr reichten, versuchte er Bilder, wo Bilder nicht mehr reichten oder zu schwach waren, suchte er nach anderen Formen, Performances u. ä.

        Versuchst Du, die Notwendigkeit zum künstlerischen Ausdruck, die wohl im Menschen liegt (das behaupte ich ja nicht einfach so; man muss ja aus der Geschichte heraus wohl davon ausgehen können), zu hinterfragen? Falls ja, dann liegt doch die Antwort in Deinen Mitmenschen, die Du irgendwie zu „widerlegen“ versuchst… falls ich das richtig verstehe… wird das, denke ich, nicht funktionieren…

        Liebe Grüße,
        Sabine

        Antworten
        1. Stefan B. Adorno Beitragsautor

          Liebe Sabine,

          vor einer Antwort: dieser Artikel ist nicht dazu gedacht grundsätzlich zu klären, ob Kunstwerke begründbar sind oder nicht. Ich finde allerdings die Argumentation von Claus Borgeest schlüssig und folge ihr. Wenn da Fragen bleiben, wäre es am am Besten Du würdest Dir sein Buch besorgen oder wenigstens mal in die Kurzfassung schauen. ====> Hier

          Ansonsten in aller Kürze:

          Claus Borgest versteht unter Begründung:

          Für eine angemessene Anzahl von Kunstwerken gilt, dass sich ihr Kunststatus nicht aus ihren Eigenschaften herleiten lässt.

          Wenn Du das anzweifelst, dann sollten wir eine eigene Seite aufmachen, wo wir das diskutieren können, denn dieser Artikel ist schon einen Schritt weiter. Die entsprechende Seite ist jetzt hier: http://thinglabs.de/2016/06/ist-kunst-begruendbar/

          Liebe Grüße
          Stefan

          Antworten

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