Vor 20 Jahren: Japan

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Die große Tour

Heute vor 20 Jahren, am 18.7. 1995, bin ich zu meiner ersten Japan-Reise aufgebrochen.

Da hatte ich mich mindestens schon 10 Jahre mit japanischer Kultur beschäftigt, – in den 1980er Jahren Teezeremonie und Zen-Meditation -, und kurz zuvor eine Sake-Bar in Frankfurt betrieben, – aber in Nippon selbst war ich noch nie.

Ein Bekannter musste mich erst auf eine Gruppe von Design-Studenten der Hfg Offenbach hinweisen, die noch Begleiter suchten, dass ich ernsthaft diese Reise ins Auge fasste. (Ich glaube, ich hatte Angst vor Japan…)

Selbst in Kurashiki 1995

Selbst am Kanal in Kurashiki, 28.7. 1995

So bekam ich die Chance im Schutze einer Gruppe in der ersten Woche Japan kennen zu lernen, bei einem Wettbewerb für Solar-Fahrräder und Solar-Autos und mich dann auf eine zweiwöchige Tour mit dem Zug zu begeben. Im Abschluß eine Woche in Tokyo.

Die Strecke:

Tokyo (Landung), 1 Woche in Ōgata-mura bei Akita. Dann Kashiwazaki (25.7.), => Takayama (26.7.), => Nagoya/Gifu, => Okayama (27.7.), Kurashiki (28.7.) <=> Hiroshima & Miyajima (29.7.), => Kyoto (30.7.), => Nara (2.8.), => Ise (3.8.), => Tokyo (4.8.) / Kamakura (7.8.) / Nikko (10.8.) => Tokyo (12.8., Abflug).

Ausführlicher Reiseverlauf

Di., 25.7. 1995 Kashiwazaki
Der Hotelbus bringt mich am Morgen an die Bahnstation (Hachirogata). Fahre mit dem Pendlerzug nach Akita und von dort weiter nach Niigata. Pause und Imbiss. Dann mit dem Zug immer weiter entlang der Küste nach Süden. Komme am Spätnachmittag in Kashiwazaki (柏崎) an. Die Jugendherberge liegt direkt am Meer. Nehme ein Bad. Kleines Abendessen in der JH. Neben mir nur ein weiterer Gast, der kein English kann. Abends ein gewaltiges Schreinfest (Gion, ぎおん柏崎まつり) in der Stadt.

Mi., 26.7. 1995 Takayama
Mit der Bahn weiter an der Küste. Dann umsteigen in Toyama in eine Strecke, die hinauf ins Gebirge führt. Komme am Mittag in Takayama an. Am Bahnhof in die Touristinfo, die mir ein Minshuku vermitteln. Bin etwas enttäuscht, weil es ein moderner, stilloser Betonbau ist. Laufe in der Stadt herum. In der Luft ein schwerer, süßlicher Geruch, der wohl von der Sojasauce- und Sakeproduktion stammt. Mit einem Schlag so müde, dass ich mich in einem Park auf eine Bank lege. Im Hotel ins Bad, das aber sehr einfach ist. Abendessen unter Japanern. Es gibt u.a. einen Eintopf, der auf einem winzigen Feuer in der Mitte des Tisches köchelt. Dazu viele Kleinigkeiten. Mit mir am Tisch sitzen Damen, die offensichtlich in Brasilien gelebt haben. Ich kann kein Portugiesisch und meine wenigen Worte Japanisch verstehen sie auch nicht. Später noch um die Ecke in eine Bar, wo ich mir Sake aus dem Ort bestelle. Zuletzt am Kiosk eine Dose Bier. Vor dem Zubettgehen.

Do., 27.7. 1995 Nagoya / Okayama
Ganz früh am Morgen einen Bauernmarkt besucht, der mich aber wenig anspricht. Im Hotel mein erstes japanisches Frühstück. Reis, rohes Ei, getrockneter Fisch. Iiiii.

Anstehen am Bahnhof für den Zug. Er ist sehr voll. Talabwärts nach Nagoya. Dort Umstieg in eine Regionalbahn nach Inuyama (Gifu), wo ich im Garten Uraku-en (有楽苑) das Teehaus Jo-an besuche. Für 500¥ wird mir eine Schale grüner Tee zelebriert. Zurück nach Nagoya und in den Shinkansen (auch 1. Mal). Bis Okayama ist es nicht lang. Am Bahnhof werde ich von Herrn Harada, ein Freund eines Freundes meiner Eltern abgeholt. Er wirkt sehr lustig. Familie Harada wohnt in einem freistehenden Haus und ist westlich eingerichtet. Ich bekomme das japanische Zimmer. Herr Harada muss am nächsten Morgen ganz früh zu einer Konferenz abreisen. Er lässt mich Sake probieren und schenkt mir zwei Tonschalen. Ständig macht er Witze. Sehr unjapanisch.

Fr., 28.7. 1995 Okayama / Kurashiki
Morgens mit dem Rad ins Zentrum von Okayama. Lasse mich treiben. Komme am Kunstmuseum vorbei. Irgendwo darin bemerke ich einen Saal, in dem fleißig gemalt wird. Ich weiß nicht mehr, was. Menschen stehen an Staffeleien. Ein anderes Bild oder ein Akt? Als ich in der Stadt an einem Lokal die Inschrift zu entziffern suche, ein Nudelshop (Kishimen?), kommt eine Frau heraus und spricht mich auf English an. Ihr gehört das Lokal und sie lädt mich für den Abend ein, sie dort zu besuchen.

Am Nachmittag fahre ich mit Frau Harada und ihren beiden Söhnen nach Kurashiki, eine malerische Kleinstadt nahe von Okayama. Dort gibt es ein Kunstmuseum mit westlicher Kunst. Es sieht von außen aus wie ein griechischer Tempel. Frau Harada lädt mich anschließend in das beste Haus der Stadt zum Tee ein. Kellner in weißen Handschuhen servieren den Matcha, dazu japanische Süßigkeiten. Es ist bestimmt sehr teuer.

Am Abend besuche ich die Dame in ihrem Lokal, das eine Art Imbiss ist. Sie brät hinter der Theke Kleinigkeiten, die sie auf kleinen Schalen reicht. Teils Hühnchen, teils Fisch und Oktopus. Dazu gibt es Bier oder Sake. Ihre Gäste sind sehr neugierig auf mich. Fragen mich in schlechtem Englisch, ob ich BMW fahre oder ob wir in Deutschland Jahreszeiten kennen. Als ich aufbreche, bekomme ich dezent die Rechnung zugesteckt. Gut 2.000 Yen (20€). Da war ich etwas erschrocken.

Sa., 29.7. 1995 Hiroshima / Okayama
Früh von Okayama los, mit dem Shinkansen nach Hiroshima. Zuerst nach Miyajima, wozu ich mit einer kleinen Fähre auf die Insel übersetze. Es ist sehr heiß. Im Schatten des Waldes begegnet mir eines der zutraulichen, heiligen Rehe. Als ich denke, dass es Futter will, schnappt es unvermittelt nach meinem Reiseführer und läuft damit weg. Ich hinterher. Dem Reh reißt der Reiseführer am Umschlag aus, der größte Teil fällt zu Boden, den ich auflesen kann. Das Reh mit dem Rest in den Wald.

In Hiroshima besuche ich den Atombomben-Gedächtnispark und das Museum dazu. An einer Straßenecke sehe ich einen Hinweis auf die Position von Ground Zero. Ich esse blaue Trauben.

Zurück in Okayama bemerke ich zu meinem Schrecken, dass Frau Harada zum Abendessen groß aufgetischt hat, eine gewaltige Platte Sashimi. Dabei war ich nochmals mit der Japanerin in ihrer Bar verabredet. Unter 1000 Entschuldigungen mache ich mich davon. Das tut mir heute noch leid.

So., 30.7. 1995 Okayama / Kyoto
Vormittags noch zum Landschaftsgarten Kōraku-en, dessen Pracht ich nicht wirklich würdigen kann, denn unerklärliche Schwermut überfällt mich. Ich sitze vollkommen erstarrt in einem Gartenhaus (wahrscheinlich das Ryūten) und blicke auf den Wasserlauf. Versuche es mit Rescue-Tropfen. Die helfen etwas.

Später dann Abschied von Frau Harada und Fahrt mit dem Shinkansen nach Kyoto. Das Hostel UNO House finde ich trotz Busfahrt ohne Schwierigkeiten. Es ist eine sehr einfache Herberge, die aus mehreren Schlafsälen besteht. Man breitet sein Futon auf dem Boden aus. Dafür ist es günstig, ich glaube nur 2.000¥ die Nacht. (Bissige Insekten inklusive.)

Im Hostel komme ich gleich mit einer Frau aus Südafrika ins Gespräch, die mit mir essen gehen möchte. Wir finden in der Nähe des Flusses ein Fließband-Sushi, das uns gut gefällt. Ich bekomme einen riesigen Krug Bier. Danach will sie unbedingt die Pig & Whistle Bar aufsuchen, die wir aber nicht finden können. Als sie alle Angebote, einen anderen Ort zu versuchen, ausschlägt, trenne ich mich von ihr. Später lese ich, dass die Pig & Whistle Bar ein bekannter „Abschleppschuppen“ sei.

Mo., 31.7. 1995 Kyoto
Als ich morgens aus dem Hostel trete, liegt in der Luft ein Geruch aus Weihrauch und frischen Croissants. Sehr speziell. Mit einem Bus fahre ich in den Nordwesten, wo ich als erstes den Goldenen Tempel (Kinkaku-ji) besuche. Danach den Ryoan-ji. Der berühmte Steingarten ist nur ein kleiner Teil des riesigen Areals. Ich sitze lange auf der Veranda und versuche, die Steine zu zählen. Sieht man wirklich niemals alle 15 Steine zusammen? Aufgrund der Hitze trinke ich in einem Gartenlokal, das auch zum Tempel gehört, eine Cola. Die Zikaden schreien. Ein Bambusrohr in einem Bachlauf schlägt alle 10 Sekunden. Klack, klack.

Di., 1.8. 1995 Kyoto
Mit dem Bus (man sieht nichts, weil alle Jalousien heruntergezogen, und die Anzeige und Ansage nur auf Japanisch sind) in Richtung Silbertempel (Ginkaku-ji). Unterwegs beim Postamt Geld abgehoben. Das funktionierte tatsächlich problemlos. Besichtigung des Gartens des Ginkaku-ji, großartig. Danach entlang des Kanals (Philosophenweg) nach Süden gelaufen und nach Lust und Laune die Tempel am Wegesrand besichtigt. Besonders schön, der Eikando. Am Nanzen-ji endet der Weg und ich spüre die trockene Sommershitze mit voller Kraft. In der Nähe des Hostels mache ich auch die erste Erfahrung mit einem Sento. Die Kästen am Eingang kommen mir klein vor, aber ich stopfe alle meine Kleidung rein. Dann stehe ich nackt vor der Kassiererin! Die Kästen waren nur für die Schuhe gedacht. Ausziehen tut man sich drinnen.

Mi., 2.8. 1995 Kyoto / Nara
Morgens noch mit dem Bus zur Ura-Senke Teeschule. Sie haben ein kleines Museum und im Garten eine Teehütte. Dort wird mir eine Schale Tee geschlagen.

Später dann mit dem Zug ins nicht weit entfernte Nara. Schließe mein Gepäck weg und besuche den weitläufigen Tempelbezirk. Auch hier laufen zahme Rehe umher, von denen ich mich aber fernhalte. Natürlich besichtige ich auch den mächtigen Tōdai-ji Tempel. In einem seiner hölzernen Stützpfeiler ist ein kleines Loch. Wer als Mann dort hindurchschlüpfen kann, gilt als besonders potent. Vor mir steht eine Gruppe Deutscher, ein Mann und drei Mädels. Der Mann wirft sich großspurig auf den Boden und versucht, in das Loch einzudringen. In der Mitte bleibt er unerwartet stecken und muss unter Flüchen von zwei Mädels herausgezogen werden. Kein Mitleid. Auf dem Rückweg zum Bahnhof entdecke ich noch einen sehr schönen kleinen Garten, den Isui-en (依水園).

Dann zur JH. Sie habe ein Gemeinschaftsbad, eine große Metallwanne. Gehe danach mit zwei Franzosen in der Stadt essen.

Do., 3.8. 1995 Ise
Als ich beim Frühstück in der JH unschlüssig mit meinem Tablett herumstehe, winkt mir eine Gruppe Japaner zu, mich an ihren Tisch zu setzen. Ich denke, es ist der Lehrer, der mir gestern beim Busticket half. Sie fragen mich, wie mir Japan gefiele, und ich schwärme in höchsten Tönen. Dabei wirken ihre Minen immer steinerner. Schließlich platzen sie heraus: We hate it! We are Koreans! – Oh, wie peinlich für mich.

Von Nara mit der Kleinbahn nach Ise. Am Bahnhof beim Hotel angerufen, dem Hoshide Kan. Sie haben noch ein Zimmer und es ist nur 5min vom Bahnhof. Lege mein Gepäck ab und besuche zuerst den äußeren Schrein (keine Erinnerung mehr). Dann nehme ich den Shuttle-Bus zum inneren Schrein. Weiter: Bad im Fluss. Dann nach Futami-ga-ura mit der Lokalbahn. Besuch der Steine am Meer. Imbiss in einem Restaurant dort. Spät Abends zurück nach Ise. Bad im Hotel. Ungeheure Hitze. Das traditionelle Ryokan besitzt keine Klimaanlage.

Selbst an den verbundenen Steinen bei Futami-ga-ura, 3.8. 1995

Selbst an den verbundenen Steinen (Meoto-iwa) bei Futami-ga-ura. Am 3.8. 1995

Fr., 4.8. 1995 Tokyo
Gegenüber dem Bahnhof steht ein Kaufhaus. Dort suche ich nach einem Geschenk für eine Freundin in Frankfurt. Als innerem Bild bleibt mir noch die Rolltreppe. Dann nehme ich die Lokalbahn bis Nagoya, wo ich in den Shinkansen umsteige. Im Zug kommt eine Verkäuferin durch den Wagon, bei der ich einen Espresso und ein Vanilleeis bestelle. Der Espresso regt mich an, während der Zug dahinrast. Geschwindigkeitsrausch.

In Tokyo direkt nach Akasaka zum Goethe Haus. Bekomme dort mein Zimmer. Rufe dann den Bekannten von Station Rose an, Akira. Er sagt, ich solle gleich vorbeikommen. Nach Kichijoji, etwa 6-8 Stationen mit der Chuo-Line. Warum hat jemand in so einer Gegend einen Plattenladen, denke ich. Doch, als ich ankomme, bin ich geplättet. Es geht quirrliger zu als in Shibuya! Akira zeigt mir seinen Laden, lädt mich zum Essen ein und zeigt mir sein Zuhause. Im Wohnzimmer hängt ein Plakat vom MMK. Bin schwer beeindruckt.

Sa., 5.8. 1995 Tokyo
Zuerst nach Harajuku. Ins Ota-Museum. Holzschnitte, eher langweilig. Kaffee danach. Ins Laforet Shopping Center. Alles sehr chic da. Weiter nach Shibuya, wo ich zum ersten Mal an der berühmten Kreuzung (Hachiko Exit) stehe. Dann zum Internetcafé „The Electronic Café“. Meine Notiz dazu sagt: „Right off Dogenzaka, in the middle of Shibuya“. Ich finde es ohne Probleme, ein abgedunkeltes Basement, Menschen sitzen an Bildschirmen, chillige Musik wabert durch den Raum. Für meinen Eintritt (2000¥?) bekomme ich einen Softdrink. Da alles auf japanisch abgeht, habe ich Schwierigkeiten, ein Terminal zu bedienen. Ich kenne auch keine Webseiten, die ich aufrufen könnte. Ob ich mit dem Personal gesprochen habe, erinnere ich nicht mehr.

Am späten Abend dann in den Techno Club Automatix in Shinjuku (2-15-26 新宿). Vorher noch versucht, das P3 alternative Museum zu finden. Es soll unterhalb eines Zen-Tempels oder Friedhofs liegen. Damals war meine Karte von Tokyo sehr ungenau. Ich meine noch, den Ort gefunden zu haben. Aber nichts deutete auf ein Museum hin.

Dann der Techno Club, der sich im 8. oder 9. Stock eines unscheinbaren Bürogebäudes befindet. Man fährt im Aufzug hoch und wird gleich am Eingang abkassiert (2000¥ und 1 Drink). Drinnen ist es dunkel. Man sieht durch die Fenster auf das nächtliche Tokyo. Ein Raum ist eher chillig, ein Stock höher geht der Technobeat ab. Traue mich nicht zu filmen. Außer der Location ist es eher unspektakulär. Bin gegen 3 oder 4 ab und durch stille Straßen (es gibt um diese Uhrzeit in Tokyo kein Nachleben, weil längst alle in ihren Schlafstädten weitab vom Zentrum sein müssen. Die Ubahn stellt den Betrieb um 0:00 ein. Es gibt keine Nachtbusse. Die ’schlimmste Zeit‘ ist, wie ich später herausfinde, zwischen 20:00 und 22:00 Uhr.) in mein Quartier.

So., 6.8. 1995 Tokyo
Lange geschlafen. Im Goethe-Haus ist nichts los. Am späteren Nachmittag nach Harajuku oder Shibuya. Bin erstaunt über die ausgelassene Stimmung. Ein Strom von jungen Menschen, der mich mitreißt. In einem Kaufhaus im obersten Stock finde ich eine riesige Zeitschriftenabteilung. Kaufe alles, was es an Party- und Lifestyle-Magazinen gibt. (Diesen Ort habe ich später nie wieder gefunden.) Irgendwo an der Straße einen Hamburger gekauft. Der war länglich wie ein Sandwich und mit undefinierbarem Inhalt. Ich sah, wie andere Japaner ihre Hamburger aufklappten und Saucen, die reichlich am Tisch standen, hineinkippten. (Auch bei McD beobachtet.) Ich machte es ihnen nach und das Teil schmeckte noch seltsamer.
Früh ins Bett, weil erschöpft von der kurzen Nacht.

Mo., 7.8. 1995 Tokyo / Kamakura
Morgens noch in Tokyo unterwegs (Fischmarkt?). Am Mittag dann mit der Bahn nach Kamakura. Steige schon eine Station vorher aus, Kita-Kamakura, und besuche die weitläufige Tempelanlage. Am Engaku-ji studierte Daisetz Suzuki Zen. Die Tempel wirken geschäftiger als in Kyoto. ich sehe Mönche, die in einem Garten arbeiten. Auf einem Berg mit einer großen, heiligen Glocke (大鐘, Ogane) trinke ich eine Cola. Dann von dort über Berg und Tal ohne rechten Plan in Richtung Küste. Und tatsächlich komme ich am Großen Buddha heraus.

Der Große Buddha von Kamakura, 7.8. 1995

Der Große Buddha von Kamakura, 7.8. 1995

Das Meer ist nicht weit. Am Strand (der sehr schmutzig ist) entkleide ich mich und hüpfe in die Wellen. Mein erstes Bad im Pazifik! Vor der Reise zurück nach Tokyo Imbiss am Bahnhof von Kamakura. (Oktopus in Teigtaschen?).

Myself at the beach of Kamakura, August 1995. After my first bath in the Pacific.

Myself at the beach of Kamakura, August 1995. After my first bath in the Pacific.

Di., 8.8. 1995 Tokyo
Zerfahrener Tag. Am Morgen versucht, in Shibuya einen Kontakt zu treffen. Aber es gelingt mir nicht. Ich finde die Adresse nicht. Mittags im Goethe-Haus Abrechnung. Sie bestehen darauf, dass ich das Zimmer bezahle. Muss zum Automaten und Geld abheben.

Me and Akira Aratake, at his store Shop33, Kichijoji, Tokyo 1995.

Me and Akira Aratake, at his store Shop33, Kichijoji, Tokyo 1995.

Anschließend zu Akira nach Kichijoji. Er zeigt mir Medienkunst auf Disketten und im Internet. Ich erfahre, dass es neben „dem Internet“ in Japan noch andere Netzwerke mit einer eigenen Architektur gibt. Man braucht zu einem Modem eine Software auf Diskette. Man bezahlt auch für den Zugang. TigerMountain erinnert mich an die Internationale Stadt aus Berlin. Es gibt einen virtuellen Marktplatz oder Forum, von dem aus man Angebote, zB. Shops, sich erschließt. Andere User ‚wohnen‘ in privaten Räumen, die man kennen muss. Ich kaufe Akira CDs und Disketten ab.

Auf dem Rückweg entdecke ich im Bahnhof Shinjuku eine riesige Obdachlosensiedlung. Was auf den ersten Blick wie große Kartons aussieht, sind Behausungen, in denen Menschen leben. Teils sind sie von absichtlich aufgestelltem Grünzeug oder Palisaden verdeckt. Es müssen mehrere hundert vielleicht auch tausend dort sich aufhalten. Die Menschen auf dem Weg zu den Zügen gehen achtlos an ihnen vorbei.

Es gibt noch eine diffuse Erinnerung, dass ich in der Hitze hinter dem Goethe-Haus einen schmalen Weg hinablaufe. Es kommt ein Sento mit Waschstation. Vielleicht wusch ich da Wäsche? Im Netz kann ich dazu keinen Ort finden. Wahrscheinlich ist das Sento schon lange weg.

Mi., 9.8. 1995 Tokyo
Am Vormittag besuche ich einen weiteren Kontakt, Adam P., der in einer Internetagentur namens Glocom arbeitet. Weil ich 5min zu spät kam, dachte er, ich bliebe aus. Zuspätkommen sei unjapanisch, tadelte er mich. (Ich war vom Goethe-Haus zu Fuß nach Roppongi gelaufen.) Was Glocom genau macht, schien mir nicht ganz ersichtlich. So etwas wie einen Masterplan für das Internet in Japan. Sie hatten auch eine große Silicon Graphics. Adam lädt mich ein, am Abend Howard Rheingold auf einen Drink zu treffen. Das nehme ich gerne an.

Von dort zur Ginza und das Sake-Museum besichtigt. Am Ende darf man einen Becher Sake probieren. Bei der Hitze bekommt mir das nicht so gut. Dann nach Asakusa. Versuche das Philippe Starck Brauhaus aufzusuchen, aber ich finde den Eingang nicht oder ich traue mich nicht. Man bekommt angeblich Bier umsonst dort. Kurzer Zwischenstop im Elektronikviertel Akihabara.

Selbst im Internetcafé in Tokyo 1995. (Foto: Howard Rheingold)

Selbst im Internetcafé in Tokyo. (Foto: Howard Rheingold)

Abends nach nach Hiroo, eine Station nahe von Ebisu, dort in einem Café des Prés treffe ich Adam und Howard. Das sehr französisch wirkende Lokal scheint auch Internet anzubieten, denn es stehen an mehreren Stellen Bildschirme herum. Sie haben auch Kameras, denn Howard macht sofort ein Foto von mir und stellt es auf seine Webseite.

Nach einem Drink im Café brechen wir auf nach Ebisu. Im Bahnhof im Basement befindet sich der afrikanische Piga Piga Club. Adam erklärt, Howard käme jedes Mal in Tokyo dort hin. Eine Live Band spielt Reggae, Funk oder Soul, die Menschen stehen an Tischen. Adam bestellt für alle Pommes frites. Oder sind es Heuschrecken? Die Musik wirkt mitreißend. Schließlich tanzt das ganze Lokal. Kaum zu glauben bei den sonst so reservierten Japanern. Aber um 22:00 ist pünktlich Schluss und alle brechen auf. Praktisch, dass man sich gleich an einer größeren Bahnstation befindet.

Do., 10.8. 1995 Nikko
Ich verlasse am Morgen das Goethe-Haus und fahre für 1 Tag nach Nikko. Der Rat des Reiseführers, für die Strecke eine Privatbahn (statt der staatlichen JR) zu nehmen, weil günstiger, hat prima geklappt. Ich komme mit dem Tobu Nikko Limited Express knapp vor 10:00 in Nikko an. Trinke zuerst einen Kaffee im Bahnhof, dann bringe ich mein Gepäck zur JH.

Erster Programmpunkt, mit dem Bus durch die 48 Haarnadelkurven hinauf zum Chūzenji-See. Da sieht es sehr touristisch aus. Auf eine (wahrscheinlich überteuerte) Fahrt mit einem der Ausflugsschiffe, die sehr an Rhein-Dampfer erinnern, habe ich keine Lust. Nach einem Abstecher zu den Kegon-Wasserfälle, weithin bekannt für viele unglücklich Verliebte, die sich dort hinunterstürzen, und einer Nudelsuppe in einem der vielen Restaurants nahe der Anlegestelle nehme ich den Bus zurück ins Tal. Ob ich die zahmen Affen sah, die dort wegelagerten, erinnere ich nicht. Manche halten sogar den Bus auf und fordern ‚Lösegeld‘ in Form von Früchten oder Bananen.

Zweiter Programmpunkt, der Tōshō-gū Schrein, Grabmal des Shoguns Tokugawa Ieyasu. Wahrscheinlich der prächtigste Schrein Japans. Man steigt in mehreren Stufen, flankiert von Vor- und Nebenschreinen, durch einen gewaltigen Wald von Sicheltannen und Zypressen den Berg an, bis man in einem kleinen Innenhof vor der Urne des Shoguns steht. Sie wirkt gemessen an dem Prunk zuvor erstaunlich schlicht.

Auf dem Weg zurück erstehe ich an der Dorfstraße, im letzten Licht der Abendsonne, die sich kurz vor den Berggipfeln durch die Wolken gekämpft hatte, eine Süßspeise in Form eines Knödels. Dazu bekomme ich einen zierlichen Pappbecher, wie ein Fingerhut, mit grünem Tee gereicht. Der süße Knödel und der bittere Tee harmonieren perfekt miteinander.

Abendessen in der rustikalen JH. Es ist wenig los dort. Im Fernsehen laufen zu bester Sendezeit Werbefilme für Mähdrescher und Berichte über die letzten Verkehrsunfälle in der Gegend, die mit größter Ausführlichkeit geschildert werden. Der Hauptreporter zeigt immer wieder selbstgemalt wirkende Diagramme, die den Hergang des Unfalls erläutern sollen. Auch Zeugen kommen minutenlang zu Wort. Ihnen klopft der Reporter gelegentlich burschikos auf die Schulter.

Fr., 11.8. 1995 Tokyo
Zurück mit der Tobu Bahn nach Tokyo. Etwa 40 Minuten vor der Ankunft werden die ersten Ausläufer der Stadt erreicht. Danach geht es nur noch durch ein Häusermeer. Ich fahre zuerst nach Ikebukuro, wo ich mein Gepäck im Kimi Ryokan abgebe, letzte Bleibe in der Stadt.

Dann fahre ich zur Agentur Atom in Roppongi. Diesen Kontakt hatte mir Adam kurzfristig vermittelt. Atom sei die führende Adresse für Internet-Design in Tokyo. Die Räume liegen komplett ohne Tageslicht 2 Stockwerke tief im Keller eines Gebäudes. Das scheint normal. Der Agenturchef persönlich zeigt mir die Arbeiten der Agentur. Obwohl er eigentlich Englisch kann, lässt er von einer Mitarbeiterin übersetzen. Ich bemerke hier in aller Deutlichkeit, dass Internet kein vorübergehendes und auch kein lokales, eher auf ein akademisches Umfeld beschränktes Phänomen mehr ist, sondern global uns alle betrifft und nicht mehr weggehen wird. Während der Chef erklärt und doziert, flüstert mir die Übersetzerin in ungewohnter Vertraulichkeit zu: „Jetzt hat er mich schon wieder Schnecke (slut) genannt!“ (Sie wollte mich offensichtlich wissen lassen, wie es hinter den Kulissen in der japanischen Arbeitswelt zugeht. Als ich sie frage, warum sie sich das gefallen lasse, bekennt sie, dass sie nach 10 Jahren in New York, doch nur in Japan leben könne.)

Als wir nach der Präsentation noch ins Plaudern geraten, gesteht mir der Chef, dass er deutsche Kunst möge: Joseph Beuys und Leni Riefenstahl!

Mein letzter Abend in Tokyo gestaltet sich eher unspektakulär. Nach der Agentur fliehe ich das sich von Feierabendtouristen füllende Roppongi. In Ikebukuro hole ich mir im Konbini eine Nudelsuppe und gebe dort das restliche Geld für Reisegeschenke aus. Japanische Seltsamkeiten wie ein Waschmittel in einer winzigen Dosierflasche (für unterwegs?).

Sa., 12.8. 1995 Tokyo / Berlin
Verlasse sehr früh das Kimi (mein Reisepass, den ich als Pfand hinterlegen musste, lag dennoch bereit) und mache mich auf den Weg zum Flughafen. Da ich nicht den teuren JR Narita Express nehmen möchte, versuche ich mit der normalen JR Stadtbahn dort hin zu kommen. Erstaunlicherweise gelingt mit das, obwohl ich keine Karte der Wegstrecke besitze. Am Flughafen erfahre ich, dass mein Flug ausnahmsweise in Berlin statt in Frankfurt landen wird. So komme ich einen Tag später in der nun fremd wirkenden Heimat an.

  

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